Nadja Sieger lebt derzeit in Berlin und arbeitet als Autorin und Regisseurin am Grips Theater. Im Februar 2016 begann sie mit der Recherche zum Thema OBDACHLOSIGKEIT. Zusammen mit Kinderpsychologe und Theaterautor Georg Piller entwickelte und schrieb sie anschliessend im Juni/Juli dieses Jahres das Theaterstück AUS DIE MAUS, welches am 22.September im Gripstheater am Podewil Weltpremiere feiern wird.
AUS DIE MAUS
von Nadja Sieger & Georg Piller
Regie: Nadja Sieger
Spiel: Regine Seidler & Frederic Phung
ab 8 Jahren
»Lösungen für alle Lebenslagen!« titelt ein charmanter Motivationscoach seinen Vortrag und verzaubert dabei als schlaue Maus alle Kinder im Publikum. Er schüttelt lässig Kunststücke aus dem Ärmel, als seine Show
plötzlich von einer besonderen Frau gestört wird: Sie ist obdachlos und hat heimlich im Theater übernachtet. Was für Herrn Maus die Bühne ist, ist für sie das sicherste Versteck. Was tun? Entweder teilt sich der Coach mit dieser unberechenbaren Person das Theater oder er verbannt sie zurück auf die Straße. Und wie reagieren die Kinder? Die obdachlose Frau bringt nicht nur die Vorstellung auf der Bühne ins Wanken, sondern vor allem die Vorstellung, die der Coach und wir bis dahin vom Leben hatten.

Copyright: david baltzer
»Aus die Maus« ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Begegnung, die uns Zuschauer dazu bringt, einen respektvollen zweiten Blick zu wagen, auf Menschen, die auch obdachlos sind, aber eben vor allem Menschen – mit ganz unterschiedlichen Geschichten.
Gemeinsam hinterfragen Nadja Sieger und Georg Piller die gängigen Vorurteile über Obdachlosigkeit ohne zu verharmlosen und entwickeln mit viel kindlichem Mut eine humorvolle Perspektive auf ein ernstes Thema.
Auszug aus dem Textbuch:
Maus: »Wisst ihr Kinder, warum ihr jeden Morgen freudig aus dem Bett steigen solltet? – Weil euch jeder Tag eurem Traum ein Stückchen näher bringt.«
Obdachlose: »Ick hab keen Bett!«
Maus: »Entschuldigen Sie, Sie unterbrechen hier gerade eine Vorstellung…«
Obdachlose: »Ja und Sie haben keine Vorstellung davon, was das heisst!«
Maus: »Darum geht es hier nicht!
«Obdachlose: »Doch, genau darum geht es hier Mäuschen: Ich hab kein Bett!«
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Regisseurin, Autorin und Komikerin Nadja Sieger im Gespräch über die Bedeutung von Komik
Warum darf und warum muss es komisch sein, wenn wir uns auf der Bühne einem schweren Thema wie dem Thema Obdachlosigkeit widmen?
Wir können sagen: Das Wasser ist warm. Aber wenn dieses Wasser langsam wärmer und wärmer wird, sind wir als Gradmesser nicht zu gebrauchen. Das Gegenteil hilft. Warm empfindet man vor allem dann als warm, wenn es vorher kalt ist. Genauso verhält es sich in der Verbindung von Tragik und Komik. Wenn wir eine Situation im Theater immer nur schlimm und schlimmer werden lassen, laufen wir Gefahr, dass uns die Zuschauer emotional abspringen. Zu viel ist dann einfach zu viel. Wenn sich aber eine Obdachlose, die wirklich in der Scheiße sitzt, mit einem Lied über das schöne Leben tröstet, sich damit an wunderbare Momente im Leben erinnert, die schließlich auch sie einst hatte und dadurch echte Hoffnung schöpft, dann wird uns die wirkliche Tragweite ihres Elends bildlich bewusst. Wir fühlen mit unserer Protagonistin mit, die mit einem Lachen untergeht. Zurück bleibt das Gegenteil von emotionaler Distanz: Verständnis und der Wunsch, einfach nur helfen zu können.
Welche Bedeutung beziehungsweise, welche Funktion hat Komik für Dich in Deiner Arbeit?
Lachen entspannt. Das klingt einfach und ist es auch. Wenn wir etwas nicht verstehen, verspannen wir uns. Uns stockt der Atem, wir sind am Denken und bleiben so lange verspannt, bis uns die Lösung erlöst. Diese lässt uns aufatmen, und was passiert? Wir lachen. Lachend können wir wieder Frieden schließen mit uns, unseren Fehlern und unserer Engstirnigkeit. Komik ist ein wunderbares Spielmittel für die Bühne. Mehr noch: Komik ist Rhythmus: Ein Hin und Her zwischen Anspannung und entspanntem Lachen kann, wie ein Wellengang zwischen Bühne und Zuschauerraum hin und her gehen. Das Theater wird lebendig und plötzlich atmet das Publikum im Saal denselben Puls, wie die Schauspieler auf der Bühne. Lachen verbindet.
In einem unserer ersten Gespräche sagtest Du, wenn es in unsere Geschichte einen Moderator und eine obdachlose Frau gäbe, wäre für Dich klar, dass der Moderator – also hier im Stück die Maus – der Regelmacher ist und die Obdachlose der dumme August. Bitte erklär uns, was Du damit meinst.
Ich gebe ein einfaches Beispiel: Dem Weissclown gehört ein Stuhl. Der dumme August ist müde, darf sich aber nicht auf den Stuhl setzen. Was passiert? Er versucht die Regel einzuhalten, steht brav und müde neben dem Stuhl, bis er sich im Halbschlaf hinsetzt. Wenn ihm nun der Weissclown den Stuhl unterm Hintern wegzieht, landet der August am Boden, ohne zu wissen, warum. Aus seiner Sicht hat er nichts falsch gemacht.
Mindestens so unwissend wird unsere Obdachlose den laufenden Vortrag der Zaubermaus stören. Nicht weil sie das will, sondern weil es ihr passiert. Sie will sich natürlich augenblicklich davon stehlen, hat aber viel zu viele Sachen dabei. Ein leiser Rückzug aus dieser verfahrenen Situation ist unmöglich. Sie stört, allein schon darum, weil sie da ist, wo sie nie hätte auftauchen dürfen: Auf der Bühne. Sie ist falsch, ohne es zu wollen und das ist sehr tragisch, gleichzeitig lustig, weil menschlich, und allein schon darum wunderbar clownesk.
Vorabbericht kulturradio rbb vom Sonntag 18.9.16
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Premièrenkuendigung AUS DIE MAUS
Was nicht zählt, zählt nicht.
-> eine Kolumne von Nadja Sieger über Obdachlosigkeit in Berlin